Hans Schaffert (1918–2003)

Reformierter Pfarrer, der Freund und Feind liebte

Hans Schaffert
Hans Schaffert / Foto HEKS, Jörg Müller

«Die Gegenwart braucht Menschen von heute, nicht von gestern oder vorgestern, die bereit sind, bis an das Ende der Erde zu gehen.»

Hans Schaffert wurde als Sohn eines Lehrers in Bussnang (AR) und dessen Ehefrau Helene geboren. Schafferts Geschichte beginnt 1942 ganz harmlos mit dem Vorschlag seines Theologieprofessors, er solle doch nach Frankreich, genauer nach Clermont-Ferrand, gehen, um zu studieren, denn die Theologische Fakultät von Strassburg war inzwischen dort – in der freien Zone – angesiedelt. Der 23-jährige Student war froh, der Schweiz entfliehen zu können und in das protestantische Milieu des Elsass mit seiner klaren Haltung gegen das Naziregime zu kommen. In der Auvergne begegnet er Mitgliedern des Komitees zur Bewegung der Flüchtlinge CIMADE (Comité inter mouvements auprès des évacués).

Die CIMADE bat ihn dem Kollegen der evangelischen Gemeinde im Internierungslager Gurs im Departement Basses Pyrénées zu helfen. Dort befanden sich zu dieser Zeit mehr als 3000 Juden aus Süddeutschland, die deportiert worden waren. Männer, Frauen, Kinder und alte Menschen, die in unhygienischen, oft fensterlosen Baracken zusammengepfercht waren, im Winter in eisiger Kälte und im Sommer in einem bestialischen Gestank. Schaffert machte Besuche, half den Familien und predigte am Sonntag «das Evangelium der Freiheit in einem Land der Sklaverei und der Ungerechtigkeit». Seine «Gemeindemitglieder» sind Juden und Christen. Oft stellte er gegen alle Vorschriften falsche Taufscheine aus. Drei Monate blieb er dort und wurde Zeuge der ersten Deportationen in das KZ Auschwitz. Spontan verhalf er sechs jungen Männern zur Flucht Richtung Spanien. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz verfasste Schaffert einen Bericht über das Lager und richtete diesen an den Präsidenten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK, Alphons Koechlin (1885–1965), der den Bericht an den Bundesrat Eduard von Steiger, Flüchtlingspfarrer Paul Vogt und Karl Barth weitergab. Auch der Politiker Arthur Frey erhielt den Bericht zugespielt, er veröffentlichte ihn anonymisiert. Dies führte zu einem Protest des Präsidenten des französischen evangelischen Kirchenbundes, Marc Boegner, bei Marschall Philippe Pétain.

Nach seiner Ordination war Schaffert, gemeinsam mit dem deutschen Pfarrer Kurt Lehmann (1892–1963), von 1943 bis 1945 Mitarbeiter bei Paul Vogt im Flüchtlingspfarramt in Zürich, das vom SEK, von der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich und vom Schweizerischen kirchlichen Hilfskomitee für evangelische Flüchtlinge eingerichtet worden war. Sie erhielten von George Mandel-Mantello 1944 Protokolle aus Budapest über den Abtransport von Juden nach Auschwitz und setzten sich, gemeinsam mit dem Rabbiner Zwi Taubes, im Juli 1944 für die Veröffentlichung dieser Dokumente ein. In einer nächtlichen Aktion vom 3. zum 4. Juli 1944 vervielfältigte er, gemeinsam mit Paul Vogt, 2000 Exemplare des Protokolls und versandte diese. Die Veröffentlichung des sogenannten Auschwitz-Protokolls der geflohenen KZ-Häftlinge Rudolf Vrba und Alfréd Wetzler rief ein weltweites Echo hervor und verstärkte den öffentlichen Druck auf die Grossmächte. Georg Mantello dankte 1989 Schaffert für seinen Einsatz «als einem der Hauptbeteiligten an der Rettung von 150.000 Juden in Budapest während des Holocaust».

1947 heiratete Schaffert die Jüdin Cécile, deren Familie zum Teil in den Nazilagern getötet wurde. Von 1945 bis 1953 war Hans Schaffert Pfarrer im französischen Lille. Die Gemeinde beauftragte ihn mit der Seelsorge für die über 200 als kriminell eingestuften Kriegsgefangenen; unter ihnen waren etwa 40 Frauen. Er akzeptierte den Auftrag zögernd, den Peinigern der ihm nahestehenden Opfer von Gurs das Evangelium zu verkünden. «Ich legte die Karten auf den Tisch, erinnert er sich, «Ich informierte sie darüber, dass ich im Lager Gurs gewesen war. Ich sagte ihnen, dass ich sie betrogen hatte, wo immer ich konnte, dass ich ihnen so oft wie möglich geschadet hatte. Und dann sagte ich ihnen auch, dass ich jetzt ihr Pfarrer sein wolle.» Die Hälfte der Gefangenen lehnten ihn, den «Judenpfaffen», zunächst ab. Die andere Hälfte der Kriegsverbrecher war jedoch kooperativer, zumal Schaffert bei jedem seiner Besuche Zigaretten und Essen mitbrachte. Und selbst die vielen zu lebenslänglichem Zuchthaus oder zum Tode Verurteilten, waren schliesslich dankbar für seinen Beistand. 1954 kam Schaffert zu dem Schluss, dass einige Gefangene nun genug für ihre Schuld bezahlt hätten. Einige von ihnen waren sehr jung in Sondereinheiten eingezogen worden. Es war an der Zeit, ihnen ein neues Leben zu ermöglichen. So traf Schaffert eine erstaunliche Entscheidung. Er schrieb dem französischen Staatspräsidenten René Coty und bat ihn, als Gegenleistung für seine neun Jahre im Dienste Frankreichs ebenso viele Nazi-Kriegsverbrecher freizulassen. Präsident Coty willigte ein und forderte ihn auf, neun Namen vorzuschlagen. Dank seiner Initiative wurden neun Gefangene freigelassen. Schaffert zufolge haben sie nie etwas davon erfahren.

Von 1954 bis 1961 war er Pfarrer in Leysin, bevor er 1962 begann, im Auftrag des Ökumenischen Rats der Kirchen ein Hilfswerk in Belgisch-Kongo aufzubauen und die ökumenische Hilfe zu koordinieren. 1967 ehrte die Holocaust-Stiftung Yad Vashem Schaffert als Gerechten unter den Völkern. Er war von 1968 bis zu seiner Pensionierung 1984 Zentralsekretär des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) in Zürich. In dieser Zeit hat er massgeblich die Beziehungen zu den Kirchen in Osteuropa ausgebaut.