Die Welt als Schöpfung sehen

Kunst macht verborgene Dinge sichtbar. Sie erweitert unseren Blick. Die Bibel lenkt unseren Blick auf eine lebende Welt in Beziehungen. Die Welt als Schöpfung zu sehen erinnert uns daran, dass wir in Beziehung zu einem Schöpfer stehen, der uns begleitet.

Das Wort «Schöpfung» hat mehrere Bedeutungen: Es bezeichnet das Universum, die erschaffene Welt und wird auch verwendet, um ein Kunstwerk, eine künstlerische Schöpfung zu umschreiben. In den folgenden Zeilen wird uns der Blick der Künstler begleiten und den Bezug zum Titel des Artikels herstellen. Denn ein Werk kann manchmal ein Fenster auf vergessene Dimensionen unserer Welt öffnen und uns dabei helfen, eine neue Verbindung mit ihr zu knüpfen.

Kunst als Schöpfung

Pfarrer Paul Tillich, im Ersten Weltkrieg als junger Seelsorger an der Front, trug auf den Schlachtfeldern stets einen kleinen Kunstdruck aus einer Zeitschrift mit sich. Es handelte sich um Madonna mit dem Kind und singenden Engeln von Botticelli. Das Schwarz-Weiss-Bildchen tröstete den traumatisierten jungen Mann. Während eines Heimaturlaubs erhielt Tillich die Gelegenheit, das Museum in Berlin zu besuchen, in dem das Originalgemälde ausgestellt war. Es berührte in zutiefst. Die realen Farben und Dimensionen brachten die innere Kraft des Bildes zur vollen Entfaltung. Tillich brach in Tränen aus. Die Sanftheit, Mütterlichkeit und Musikalität, die von dem Werk ausgingen, wirkten wie Balsam im Elend der Grabenkämpfe. Botticelli hatte Tillich einen Ort der Harmonie geschenkt. Der Blick des Künstlers hatte den Soldaten aus seiner verzweifelten Sicht gerissen.

Im Rahmen seiner theologischen Arbeit hatte Tillich später die Gelegenheit zu zeigen, dass künstlerische Schöpfungen nicht nur den Weg zu einer tröstenden Harmonie ebnen, sondern den Blick auf andere wirksame Kräfte lenken können. Dort, wo die technizistische Betrachtungsweise eine nüchterne und rationalisierte Welt in unseren Köpfen formt, enthüllt der Künstler eine bewegte, brodelnde und aufgewühlte Welt. Wie van Goghs Bäume, die wie von einer inneren Kraft aus den Tiefen der Erde durchgerüttelt werden, oder Turners lichtgesättigten Landschaften, deren Silhouetten sich aufzulösen scheinen. Die expressionistischen Werke der 1920er- und 1930er-Jahren wirkten wie Warnsignale, prophetische Infragestellungen, die Tillich umsichtig kommentierte. Die Kunst ist fähig, unseren Blick zu erweitern. Sie zeigt uns eine komplexere, berührende und letztlich lebendigere Welt.

Schöpfung als Beziehung

Wenn uns die biblische Schrift die Welt als Schöpfung beschreibt, dann lenkt sie uns meines Erachtens in die folgende Richtung: eine Welt zu sehen, die Leben spendet. Ein Leben, das uns und das Pflanzen- und Tierreich beseelt und an dessen vereinigendem Ursprung Gott steht. Sie ist keine astrophysikalische Beschreibung der Welt, sondern eine Beschreibung, die eine Beziehung zwischen einem Schöpfer und seiner Schöpfung, einem Schöpfer und seinen Geschöpfen herstellt. Die ersten Verse der Genesis pulsieren. Überall wimmelt es von Leben, das die Wesen miteinander und mit Gott verbindet. Sie sind die Grundlage für Beziehung, Dialog und Freiheit.

Die Entwicklung des westlichen Gedankenguts hat unsere Sichtweise stark eingeschränkt. Dieses Denken hat die Welt der Schöpfung und Beziehung zu einer Welt der Natur und Einsamkeit verwandelt. Der Gedanke der Schöpfung bringt die Lebenden zusammen, der Gedanke der Natur isoliert sie. Der Aufschwung der Wissenschaft und der Technologie hat eine Welt geschaffen, die zunehmend ausbeutbar und immer unbeteiligter wird. Der Theologe Jacques Ellul folgert, dass dies das Ergebnis eines Prozesses der Beherrschung ist. Eines Prozesses, der es dem Menschen ermöglicht hat, «allein in seinem eigenen System» zu sein. Allein und ohne ein Gegenüber, das ihn zur Rechenschaft zieht. Die Moderne hat den Blick des Menschen so verändert, dass dieser Mensch es nicht mehr nötig hat, «die Augen auf zu den Bergen zu heben» (Ps 121).

Angesichts des heutigen Zustands unseres Planeten mit seinen schwindenden Gletschern, den Waldbränden, der Verschmutzung und den überfluteten Küstengebieten kommt mir ein Wunsch: Meine Augen auf zu den Bergen zu heben und zu schreien: «Oh, Gott, was können wir jetzt noch tun?»

Ich kenne seine direkte Antwort nicht. Ich nehme jedoch an, dass es ein Schritt in die richtige Richtung sein wird, die Welt als Schöpfung zu sehen. Diese Sicht wird uns an unsere Beziehung zur Eiche, zur Spinne, zum Rhinozeros erinnern und uns auch nicht vergessen lassen, dass wir alle Wesen sind, die in Beziehung zu einem Schöpfer stehen, der uns begleitet. Wir werden durch eine solche Sichtweise zwangsläufig unsere Lebensweise ändern.

Solidarität mit den Geschöpfen

Als wir unser erstes Kind erwarteten, besuchten meine Frau und ich einen Geburtsvorbereitungskurs. Wir erhielten klare Informationen anhand farbiger Diagramme, anatomischer Teile aus Plastik und Dokumentarfilmen über Geburten. Das war äusserst lehrreich. Dann sahen wir eines Tages das Werk eines Filmemachers, der die Schwangerschaft und Geburt einer Elefantenkuh gefilmt hatte. Die Emotionen dieser werdenden Mutter waren dem Auge des Künstlers nicht entgangen. Wir waren den Tränen nahe, als wir sahen, wie die Elefantenkuh nach der Geburt den ganzen Körper ihres Babys mit ihrem Rüssel abtastete, um es zu spüren, zu berühren und aufzunehmen. Sie, die Elefantenkuh, machte uns verständlich, was mit uns geschehen würde. Das war eine Offenbarung über unser Schicksal als Geschöpfe, in Solidarität mit den anderen Geschöpfen und in Beziehung zu dem Schöpfer.

Pierre-Philippe Blaser, Pfarrer in Romont. Mitglied des Rates der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS.

Dieser Text ist im Magazin zur Schöpfungszeit 2020: «Und siehe, es war sehr gut. Themenreihe fünf Sinne» erschienen.