Die Schönheit dieser Stadt und ihre Lebendigkeit ist immer noch da. Die Sonne tunkt sie in ein warmes Licht, das Meer glitzert und die Skyline streckt sich zum Himmel. Von Weitem scheint alles beim Alten zu sein. Man sieht zwar den zerstörten Hafen, aber auch Instand gesetzte Häuser und rege Bautätigkeiten. Bei näherer Betrachtung bekommt dieses Bild Risse. Da stehen viele Gebäude ohne Fenster, eingebrochene Hauswände, Schutthaufen hier und dort. Nur wenige Läden sind offen und die, die offen sind, werden kaum frequentiert. Aber die Strassen sind voll – voll mit bettelnden Kindern und Mütter, voll von jungen Leuten ohne Arbeit, voll mit Müll und Menschen jeden Alters, die im Müll nach etwas Essbarem suchen. Die riesige Finanzkrise stürzt die Bevölkerung in die Armut. Über 70 Prozent der jungen Menschen wollen ihre Heimat verlassen, die ihnen keine Zukunftsperspektive bietet. Es gibt kaum mehr Jobs mit einem Verdienst, der zum Leben reicht – auch nicht für die Vielen unter ihnen, sehr gut Ausgebildeten unter ihnen.
Menschen gehen auf die Strasse und fordern faires Geldmanagement seitens der Banken und der Regierung. Sie tun das mit klaren Worten, Lärm und Rauch, ohne dass ihnen Gehör geschenkt wird.

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Foto: Tabea Stalder

«Es ist die schlimmste Krise, die ich erlebt habe, schlimmer noch als während des Krieges», versichert mir ein alter Mann.
Unsere Kirchenpartner antworten auf die Frage, wie es ihnen geht, einstimmig: «We are surviving!». Zu überleben, irgendwie durch den Tag, durch die Woche, durch die Krise zu kommen – das ist für die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung zu einer täglichen Herausforderung geworden. Gerade in dieser Krise ist das Engagement unserer Partnerkirchen sehr eindrücklich und enorm wertvoll.
Zusammen mit der Armenisch Evangelischen Kirche hat HEKS nach der Explosion Türen und Fenster repariert. Das kleine ad hoc Projektteam hat sich rasch formiert und mächtig ins Zeug gelegt.

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Foto: Tabea Stalder

Der Koordinator ist noch sehr jung und setzte zum ersten Mal so ein Projekt um. Ich beobachtete ihn, wie er mit den Leuten redete, ihnen zuhörte und mit seiner ganzen Haltung nicht nur für Türen und Fenster sorgte, sondern ihnen mit grossem Respekt begegnete. Nachdem Fenster und Türen fertig waren und damit unser Projekt zum Ende kam, haben sie einfach weiter gemacht. Denn sie hatten bei ihren Hausbesuchen gesehen, dass es bei manchen Familien auch an einem Bettgestell, einer Matratze, einem Lavabo, Tisch, Schrank, Kühlschrank mangelt. Und sie versuchen seither, auf die konkrete Not, die ihnen begegnet mit den Möglichkeiten, die sie als Kirche haben, zu antworten. «Aber das ist doch nur ein Tropfen auf einen heissen Stein», höre ich SkeptikerInnen sagen. «Aber gerade diese kleinen Aktionen machen im Alltag dieser Menschen – in ihrem täglichen Kampf ums Überleben – einen Unterschied», möchte ich antworten.
Das eigene Augenmerk bewusst wieder auf unsere Mitwelt zu legen und mit dem, was wir haben Hand zu bieten, wo es nötig ist – das ist eine Lektion, die wir von unserer Partnerkirchen lernen können.

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Foto: Tabea Stalder

Im Süden des Landes besitzt eine Kirchgemeinde ein Stück Land. Als die Preise für Lebensmittel so anstiegen, trieb den Pfarrer die Motivation an, den Menschen in seiner nächsten Umgebung mit Gemüse und Früchten etwas Gutes zu tun – ganz unabhängig davon, ob sie Teil seiner Gemeinde sind oder nicht. Mit der Unterstützung von HEKS haben sie zusammen mit ihrem ganzen Dorf einen grossen Garten angelegt. HEKS hat die Pflanzen finanziert, die Kirchgemeinde hat mit viel Zeit- und Kraftaufwand das Land beackert, die Pflanzen gesetzt, die Saat gesät und gehegt. Alle DorfbewohnerInnen durften mitmachen und bekamen einen eigenen Anteil an Pflanzen.

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Gemeinsam wurde im Herbst geerntet und wieder frisch ausgesät. Mitten in der Krise hat die Gemeinde ein Erntedankfest unter freiem Himmel gefeiert. Menschen aus verschiedenen Kirchen und Religionen haben sich mit vereinten Kräften engagiert, dass gesunde Nahrung für die Familien produziert werden konnte. Das gemeinsame Arbeiten in diesem grossen Garten lässt neue Freundschaften entstehen. Die Kinder haben viel gelernt über die Pflanzen und übers Gärtnern, über Geschichten aus der Bibel rund ums Thema und übers Freudeschenken, Dankbarsein, mit vereinten Kräften zum Ziel kommen und auch darüber, dass sie selber etwas aktiv tun können, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Alles Dinge, die wir von unseren Partnern im Nahen Osten lernen und auch in unserem Alltag umsetzen können.

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Ich besuchte die Blessed School, eine Schule mit Internat für rund 70 Kinder und Erwachsene mit einer Behinderung. Dieses Haus wurde während der Explosion sehr stark beschädigt, Wände stürzten ein, Türen wurden aus der Angel gehoben, alle Fenster zerbrachen. Viel Inventar ging kaputt. Die Schuldirektorin Linda Macktabi und ihr Team haben mit wenig Geld, aber enormem Einsatz innerhalb kurzer Zeit diese Schule wieder Instand gesetzt. Es ist ein Ort, an dem es auch mir als Besucherin sehr wohl ist. Es gibt einen Raum mit Lesegerät und Computer für Menschen mit Sehbehinderung, verschiedene Ateliers um kreativ zu sein, Unterrichtsräume, viel Instrumente im ganzen Haus verteilt. Alles ist sehr sauber und gepflegt. «Ja, klar, so muss es sein», meinte Linda. «Meine Schutzbefohlenen sollen das haben, was sie brauchen. Weisst du, es ist jetzt sogar noch schöner als vor der Explosion. Weil sie es wert sind.» Und dann liegen verschiedene Päckli bereit. Jedes Kind bekommt zu Ostern ein individuelles Geschenk, eines, das Linda extra für dieses Kind ausgesucht hat. «Das ist selbstverständlich. Sie sind ja nicht alle gleich. Jedes Kind, jeder Mensch ist besonders. Das sollen sie immer wieder hören und spüren. Besonders, wenn wir das Osterfest feiern.» Da ist diese eindrückliche Direktorin, die inmitten einer Krise ihre SchülerInnen und auch uns im Westen daran erinnert, dass wir wertvoll und etwas Besonderes, vor allem aber «blessed» sind.

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Meine Tage im Nahen Osten waren prall gefüllt mit viel Arbeit rund um unsere Projekte mit den kirchlichen Partnern, aber auch mit bereichernden Begegnungen und Gesprächen, mit gottesdienstlichen Feiern und Tischgemeinschaft. Bevor ich Abschied nahm, forderte mich einer unserer Partner auf: «Bitte vergiss uns nicht. Wir sind Überlebende. Wir leben noch – inschallah!»

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Vollbepackt mit intensiven Eindrücken bin ich zurück in die Schweiz gekehrt, in Gedanken sehr oft bei unseren Kirchenpartnern im Nahen Osten und den reichen Erfahrungen, die ich mit ihnen machen und ein Stück davon mit Euch teilen durfte. Von Vergessen keine Spur!

Pfrn. Tabea Stalder
Programmbeauftrage Kirchliche Zusammenarbeit im Nahen Osten und in Osteuropa HEKS