Wir kennen diese Angst. Sie passt zum Unheil, das sich heute auf uns gelegt hat. Mitten unter uns lauert eine unsichtbare Krankheit. Sie vergiftet uns jeden zwischenmenschlichen Kontakt. Immer dieser Verdacht, das Gegenüber könnte ja das Virus in sich tragen und uns anstecken … Vom Misstrauen sind wir längst alle infiziert. Ohne jeden Körperkontakt begegnen wir einander. Kein Handschlag, keine Umarmung, kein Streicheln, kein Kuss. Wie sollen wir einander überhaupt noch berühren? Gar nicht, sagt die Vernunft. Berühren verboten. Sonst wird alles noch schlimmer.

Berühren verboten: Äusserlich ist das jetzt dringend nötig. Einander innerlich berühren, emotional, das sollten wir aber umso mehr. Lasst mich nicht allein mit meiner Angst, berührt meine Seele, darum bittet Jesus im Garten Gethsemane. «Wachet mit mir.» Nicht allen geht dieser Hilferuf leicht über die Lippen. In wie vielen Wohnungen sitzen Menschen (und nicht nur alte), die sich danach sehnen, dass endlich einmal das Telefon klingelt, dass endlich jemand fragt: Wie geht’s? Lassen wir einander nicht allein in dieser gespenstischen Zeit. Es gibt andere Zeichen der Verbundenheit als die physische Nähe. Schreiben wir, telefonieren wir, mailen, smsen, whatsappen wir, und vor allem helfen wir einander, vielleicht beim Einkaufen, vielleicht mit Ratschlägen oder mit Besorgungen. Lassen wir einander jetzt nicht allein. Umarmen wir einander ohne Körperkontakt, aber ganz fest.

Wie geht es weiter? Wir wissen es nicht, und auch damit folgen wir Jesus. Karfreitag damals, das bedeutete nicht, zwei Tage durchhalten und dann kommt schon Ostern und alles ist wieder gut. Kein Ostern in Sicht – das war der Karfreitag, damals. Jesus selbst war völlig verzweifelt. Wenn wir ihm nahe sein wollen, dann müssen wir auch heute nichts schönreden. Wir müssen nicht krampfhaft auf Optimismus machen. Alles kann noch Schlimmer werden, wir wissen es nicht, wie wir auch nicht wussten, dass die Zustände je so schlimm würden, wie sie heute sind. «Wachet mit mir»: Das ist, wozu Jesus aufruft. Es ist die Zeit, da wir mit ihm wachen, bei ihm bleiben sollen. Noch ist es Passionszeit, nicht Osterzeit. Ostern wird kommen, darauf dürfen wir vertrauen. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Aber wann und wie Ostern kommt, das bleibt bis zuletzt Gottes Geheimnis.

Wir sind Menschen, und wir leben in einer Welt, die gerade gespenstisch geworden ist. Sogar diese Welt ist aber noch voller Möglichkeiten. «Wachet mit mir», das können wir tun. Wer Jesus Christus folgen will, der tue es jetzt. Bei Jesus bleiben, das bedeutet, bei jenen bleiben, die Hilfe brauchen. Jetzt ist es wichtig, niemanden zu vergessen, der einsam ist, niemanden, der Hilfe braucht, niemanden der Angst hat, Angst vor dem, was vielleicht noch auf uns zukommt. Wachen wir miteinander. Gehen wir zu jenen, denen der Karfreitag droht. Dort ist Christus, und dorthin ruft er uns.

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Gottfried Locher, Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, Bern, 20. März 2020