Teilnehmende aus zehn Ländern und 25 Kirchen fanden zur Jubiläumstagung der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS unter dem Motto «Suchet der Stadt Bestes. Wie miteinander in Europa? Ethische Konsequenzen versöhnter Verschiedenheit» in Bern zusammen. In drei Tagen hörten sie fünf Keynotes, trafen sich in Workshop-Sessions und verfolgten eine engagierte Podiumsdiskussion.

Pfarrerin Rita Famos, Präsidentin der EKS, strich in ihrer Eröffnungsrede heraus: «Die Leuenberger Konkordie ist die Erfolgsgeschichte des ökumenischen Modells von der Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Sie nimmt den Signaturkirchen nicht ihr historisch gewachsenes Profil, aber überwindet den daraus in der Vergangenheit behaupteten kirchentrennenden Status. Die Leuenberger Konkordie ist eine gelebte ekklesiologische Patchworkfamilie.»

Pfarrer Mario Fischer, Generalsekretär der GEKE, wies auf die aktuellen Entwicklungen in Europa hin, das eine Krise der Nationalität und der Religion erlebt. «450 Jahre innerevangelischer Spannungen, Spaltungen und Lehrverurteilungen konnten 1973 durch die Leuenberger Konkordie überwunden werden. Sie ist von einer Hermeneutik des Verstehen-Wollens geprägt.» Er fragte sich, welche Rolle die GEKE in der Gestaltung Europas spielen kann. «Wir können Europa als den politischen Handlungsraum, in den uns Gott gestellt hat, mitgestalten.»

Dr. Dieter Kraus, Referent am Gerichtshof der Europäischen Union, sprach über die europäische Wertediskussion. «Es besteht oftmals Einigkeit im Prinzip, dass alle für die Wahrung der Menschenrechte, für Solidarität und für Rechtsstaatlichkeit eintreten wollen. Strittig ist zum einen: wie weit reicht ein Wert, d.h. was alles umfasst bspw. die Wahrung der Menschenrechte oder was genau meint Demokratie? Und zum anderen: was passiert, wenn ein Wert mit anderen Werten konkurriert?», umriss er die Lage. Er lobte den Beitrag der GEKE zur Wertediskussion.

Dr. Christine Schliesser, Studienleiterin am ökumenischen Zentrum für Glaube und Gesellschaft der Universität Fribourg, sprach eine dreifache Krise in der Gegenwart an: Eine des Vertrauens, der Sicherheit und der Visionen. Nicht zuletzt der Angriff Russlands auf die Ukraine habe für die westlichen Gesellschaften «die Illusion eines globalen westlichen Landes radikal zerstört.» Aus ihrer Sicht helfen hier die Ressourcen des christlichen Glaubens: Der ersten Krise lässt sich mit Liebe begegnen. «Wenn die Verantwortung an die Liebe rückgebunden ist, wird sie nicht als Macht missbraucht.» Es gibt keine private Kirche, sie und Theologie sind immer öffentlich, muss also in Politik mitwirken. Hoffnung hilft laut Schliesser gegen die Krise der Sicherheit: Sie ist keine Apathie oder Naivität, sondern Arbeit für eine bessere Zukunft. «Dabei hält die Hoffnung uns fest, nicht wir sie», so die Referentin. Gegen die Krise der Vision setzte sie die öffentliche Theologie: Mit einer erkennbaren, aber säkular verständlichen, Sprache in die Öffentlichkeit sprechen. Schliesser beschrieb diese Theologie als christozentrisch, lebendig spirituell, lokal verankert, aber global gedacht.

Pfarrerin Annette Kurschus, Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, sprach von der Stärke der kleinen Schritte: «Jetzt ist die Zeit für Mut, die Zeit zu machen.» Im Einsatz für humane Migration sieht sie die Kirche als wichtige Stimme. «Wir sind in der Pflicht, verantwortlich mitzudenken: Wir müssen Glaube, Liebe, Hoffnung in die Welt tragen.» In der Migrationsdebatte, in der der Ton allzu oft menschenverachtend und hasserfüllt ist, muss sich Kirche laut Kurschus für einen sachlichen Ton einsetzen und die Chancen der Migration offenlegen. Die Referentin mahnte auch, die Grenzen trotz Menschenströmen nicht zu schliessen. «Es fehlt eine humane Antwort auf das Sterben im Mittelmeer.» Das passt mit Rechtsstaatlichkeit nicht zusammen, unsere Werte zeigten sich an den Grenzen Europas. Kurschus riet zu Fehlertoleranz und Mut: Es gibt nicht die eine Lösung, Aufbruch auch dann wagen, wenn man den Verlauf des Weges noch nicht kennt. Ausserdem muss legale Migration auf sicheren Wegen ermöglicht werden. Kirche soll verlässlich als Stütze für die Gesellschaft und der Demokratie da sein, auch lokal, Hand in Hand mit der Zivilgesellschaft. «Wir sind keine Helden, aber wir packen es an, mit allen Menschen, die guten Willens sind.»

Sándor Fazakas, Professor für Sozialethik an der Reformierten Theologischen Universität Debrecen, analysierte in seinem Referat die Situation der europäischen Gesellschaften. Nationalismus, Populismus, autoritäre Tendenzen, Demokratiemüdigkeit sind Faktoren, die die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses bedrohen. «Wir glaubten, dass der Nationalismus hinter uns liege, aber es ist ein endloser Prozess», stellte Fazakas fest. Menschen wollen sich immer verorten, Nationalismus bedient dieses Bedürfnis. Die Nation sei eine geschichtliche Erfahrungs-, Sozialisations- und Verantwortungsgemeinschaft. Das Christentum muss laut Fazakas die Nation mit Evangelium füllen. «Nationalismus als Ersatzreligion zu sehen, greift zu kurz. Der Nationalismus instrumentalisiert religiöse Menschen.» Fazakas beschrieb die christliche Aufgabe: «Aus Glauben und Liebe heraus, tragen wir Sorge für andere Menschen. Die Wertehaltung der Christen wird geprägt durch Barmherzigkeit.»

Pfarrerin Elisabeth Parmentier, Professorin für Praktische Theologie an der Universität Genf, sprach über den gesellschaftspolitischen Auftrag der GEKE in Europa. Sie erinnerte zunächst an die Fundamente der Kirchengemeinschaft, die auf Gottesdienst und Dienst aneinander gründet. Das Gründungsdokument öffne den Horizont für das, was noch kommt. Die Kirchengemeinschaft muss verwirklicht werden. Parmentier betonte die Erfahrung der GEKE mit Verwerfungen und Konflikten. Man fand Wege des gegenseitigen Verständnisses und der Heilung der Erinnerungen. Eine Methode, die man auch in anderen Kontexten anwenden könnte: Nachkriegszeit, interreligiöser Dialog, soziale Konflikte. Hier wendet sich die Radikalität des Evangeliums gegen Vergeltung, Rachedurst, scheinbar verletzte Ehre. «Wir müssen überlegen, wie die theologische Bildung über die Fehlbarkeit des Menschen gefördert werden könnte. Das Evangelium ist Richter und Richtlinie des Verstandes.»

Den Abschluss der Tagung bildete eine von Christine Schliesser moderierte Podiumsdiskussion mit Mitgliedern der GEKE-Regionalgruppen: Gáspár Károly, Anne Zell, Miriam Rose, Attila Palscó und Tilman Ruess. «In der GEKE brauchen wir vermehrt Austausch und Begegnungen, besonders indem man sich neuen Erfahrungen aussetzt», so Palcsó. Zell, die in Italien der Waldenser und Methodisten Kirchenunion angehört, schilderte die versöhnliche Unterschiedlichkeit: «Durch die Migrationsbewegungen sind wir eine Minderheit im eigenen Haus geworden, wir müssen versöhnlich ethische Positionen aushalten. Konfliktbewältigung heisst miteinander unterwegs zu sein, auch für die GEKE.» Ihre Kirche begleite den Rechtsruck in Italien kritisch: «Eine prophetische, aber auch eine realpolitische Stimme ist wichtig.» Kàroly stimmte zu: «Offenheit sollte eine Marke unserer Kirche sein. Die GEKE ist da eine gute innerkirchliche Plattform, das hilft auch regional.» Rose strich heraus, dass ganz unterschiedliche Ansätze der Kirchen bestehen, um zu den Menschen Brücken zu schlagen: Über kirchliche Gebäude genauso wie über soziale Projekte und pioneer ministries. Gefragt nach ihrer Vision für die Erneuerung der Kirche antwortete Rose: «Hoffnung wird das zentrale christliche Thema der Zukunft sein. Wie können wir kritisch Solidarität leben? Barmherzig und differenzbewusst.»


Information: Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa
Die Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie im Jahr 1973 bildet die Grundlage für die Gemeinschaft der reformierten und lutherischen Kirchen in Europa, der sich 1997 auch die methodistischen Kirchen anschlossen. Derzeit hat die GEKE 95 Mitgliedkirchen aus den meisten europäischen Ländern.


Beiträge der Tagung werden in der epd-Dokumentation Nr. 50-51/2023 am 12. Dezember 2023 erscheinen.
Fotos der Tagung finden Sie hier.