Christen im Nahen Osten

«Wir wählen ein Leben in Fülle»

Dokument «Christen im Nahen Osten: für eine Erneuerung der theologischen, sozialen und politischen Entscheidungen» in Beirut präsentiert – Plädoyer für kirchliche Erneuerung und mehr Synodalität.

Beirut, 29.09.21 (poi) Ein neues, ökumenisch erarbeitetes Dokument ruft zu einer umfassenden Erneuerung des kirchlichen Lebens im Nahen Osten auf. Der lange und dichte Beitrag stellt einen systematischen Versuch dar, die gegenwärtige Situation der christlichen Gemeinschaften im nahöstlichen Kontext eingehend zu betrachten, heißt es in dem Dokument, das den Titel «Christen im Nahen Osten: für eine Erneuerung der theologischen, sozialen und politischen Entscheidungen» trägt. Diese Initiative sei in der jüngeren Geschichte der theologischen und pastoralen Reflexion über die Gegenwart und Zukunft der Christinnen und Christen im Nahen Osten einmalig, urteilte der vatikanische Nachrichtendienst Fides.

Das Dokument wurde am Dienstag im Rahmen einer offiziellen Präsentation im Konferenzsaal der Kirche St. Elias in Antelias (Libanon) vorgestellt. Es handelt sich um das Ergebnis der aufwendigen Arbeit eines Teams von Theologinnen und Theologen sowie von Fachleuten für ökumenische, geopolitische und sozialwissenschaftliche Fragen. Zu dem Team, das aus elf Persönlichkeiten aus mehreren Ländern der Region besteht, gehören u.a. Pfarrerin Najla Kassab, Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, Prof. Souraya Bechealany, ehemalige Generalsekretärin des Nahost-Kirchenrates, der orthodoxe libanesisch-deutsche Theologe Prof. Assaad Elias Kattan, der palästinensische lutherische Theologe Pfarrer Mitri Raheb sowie der maronitische Priester Rouphael Zgheib, Nationaldirektor der Päpstlichen Missionsgesellschaften im Libanon.

Im ersten der drei Abschnitte des Dokuments, dem ein kontextuell-theologischer Ansatz zugrunde liegt, wird der aktuelle sowie historische geopolitische Kontext kritisch reflektiert. Die Christen im Nahen Osten seien mit enormen Notlagen und Provokationen konfrontiert, «die uns vor Entscheidungen stellen, von denen unsere Existenz und unsere zukünftige Präsenz abhängen». Die „«allmähliche Schwächung unserer Präsenz und unseres Zeugnisses» mache es aber «zwingend erforderlich, eine gründliche Prüfung unserer Situation vorzunehmen, die sich auf eine ruhige kritische Lektüre stützt».

In vielen Passagen in dem Dokument wird von Stereotypen berichtet, die die vorherrschende Darstellung in den westlichen Medien über die christlichen Gemeinschaften des Nahen Ostens prägten und verschleierten. Es sei falsch, stets von bedrängten «Minderheiten» zu sprechen, «die des externen Schutzes bedürfen, sei es in finanzieller oder geopolitischer Hinsicht». Angesichts von politischen Verwerfungen im Nahen Osten, die in dem Dokument mit einer Fülle von klaren aktuellen sowie historischen Bezügen, etwa zu den Zeiten der arabischen «Renaissance» und des «islamischen Wiedererwachens» analysiert werden, wird darauf hingewiesen, dass die heimtückischste Gefahr für die derzeitigen christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten der «reduktionistische Ansatz ist, der ausschließlich auf der Logik von Mehrheit und Minderheit beruht», halten die Verfasser des Dokuments fest.

Im zweiten Abschnitt wird der kirchliche und theologische Kontext analysiert. Angesichts der bestehenden Diversität und Vielfalt der christlicher Präsenz in den Ländern des Nahen Ostens, die aber auch einen Reichtum darstelle, wird auf die Notwendigkeit ökumenischer Zusammenarbeit und die Bedeutung theologischer und spiritueller Bildung hingewiesen. Auch die Rolle der Kirchen im öffentlichen Raum und ihr Beitrag zum Gemeinwohl sowie einige Herausforderungen und Probleme der Koexistenz werden beleuchtet. So könne die Auswanderung von Christen, die in den letzten Jahrzehnten zugenommen habe, nicht ausschliesslich als direkte Auswirkung des Aufkommens gewalttätiger islamistischer Bewegungen interpretiert werden.

Es seien auch Faktoren der «inneren Schwäche», die den christlichen Geist von Institutionen und kirchlichen Realitäten belasten, zu berücksichtigen. Unter anderem wird festgestellt, dass «die vom religiösen Establishment verwendete Sprache in vielen Fällen noch weit von der täglichen Realität, den Leiden und Ängsten der Christen vor Ort entfernt ist» und allmählich ihre Anziehungskraft auf die jüngeren Generationen verliere, unter denen eine wachsende Tendenz zum Indifferentismus und sogar zum Atheismus zu beobachten sei, die von kirchlicher Seite noch nicht ausreichend wahrgenommen werde.

Nach einer kritischen Analyse werden im dritten Teil des Dokuments mögliche Antworten auf die in den vorigen Kapiteln angesprochenen Herausforderungen formuliert und konstruktive Wege für ein erneuertes, gestärktes und effektives Zeugnis der christlichen Präsenz im Nahen Osten vorgeschlagen. So wird an mehreren Stellen dazu aufgerufen, den Schatz der eigenen kirchlichen Traditionen neu zu entdecken. Die Struktur der meisten historischen Kirchen des Nahen Ostens sei stark vom Prinzip der Synodalität geprägt. Die auf diesem Prinzip beruhenden traditionellen Merkmale des kirchlichen Lebens der Gemeinden müssten wiederhergestellt werden. Es sei mit dem Prinzip der Synodalität nicht zu vereinbaren, wenn «das Volk Gottes – insbesondere Frauen und junge Menschen – bei wichtigen Entscheidungen an den Rand gedrängt werden», so die Autorinnen und Autoren des Dokuments.

Angesichts des geopolitischen Kontextes rufen die Autorinnen und Autoren des Dokuments die Christinnen und Christen im Nahen Osten dazu auf, sich zu weigern, an diktatorischen politischen Regimen, seien sie ideologisch säkular, theokratisch oder feudal inspiriert, festzuhalten oder sich mit ihnen zu identifizieren. Die einzige zukunftsträchtige Perspektive für die Christinnen und Christen im Nahen Osten sei eine aktive Beteiligung am öffentlichen Leben und der Einsatz für einen zivilen Staat, der auf Basis staatsbürgerschaftlicher Rechte und des Gleichheitsprinzips regiert wird. Nur ein solcher moderner Staat sei in der Lage, alle Diversitäten und Pluralitäten in den Ländern des Nahen Ostens aufzunehmen und zu integrieren.

Im Schlusskapitel des Dokuments wird festgehalten: «Wir sehen in diesen Entscheidungen und Massnahmen einen wohlüberlegten Ausdruck des Engagements der Christen im Nahen Osten für menschliche Solidarität und ein menschenwürdiges Leben für jeden Menschen in unserer Region. Wir sehen in ihnen auch eine Ablehnung der zügellosen Kultur des Todes und der Annahme der Logik der Gewalt zur Lösung von Konflikten. Unsere christliche Präsenz muss gegründet sein auf den Dienst (diakonia) an jedem Menschen, auf hingebungsvolle Liebe und echte Vergebung, im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes.»

Bei der Präsentation wurden auch fünf online vorgetragene Beiträge und Kommentare präsentiert, die Bezug nahmen auf die hohe aktuelle Bedeutung des Dokumentes. Der erste Beitrag kam vom chaldäischen Patriarchen Kardinal Louis Raphael Sako aus Bagdad, der das Dokument als Beginn eines Dialogs zur Erneuerung der Kirchen im Nahen Osten beschrieb und die Verantwortlichen aller Kirchen einlud, sich an diesem Dialog zu beteiligen.

Auch der emeritierte Lateinische Patriarch von Jerusalem, Michel Sabbah, äusserte sich mit Anerkennung und Dank für die von der Gruppe geleistete intensive theologische Arbeit, die für die Zukunft der Christinnen und Christen im Nahen Osten von großer Bedeutung sei. Für diese Zukunft sei die quantitative Präsenz weniger bedeutsam als die Qualität des christlichen Zeugnisses in den beschriebenen von Pluralität gekennzeichneten Kontexten. Es werde entscheidend sein, mit der gleichen Liebe jenen zu begegnen, die in der eigenen Tradition stehen, als auch jenen, die in anderen christlichen Traditionen oder den unterschiedlichen Religionen beheimatet sind.

Der Wortlaut des Dokuments, das zwischenzeitlich bereits von hunderten weiterer Einzelpersonen unterzeichnet worden ist, ist in arabischer und englischer Sprache in den sozialen Medien unter dem offiziellen Titel „We choose abundant life“ abrufbar: http://www.fides.org/it/attachments/view/file/Testo_integrale_del_Documento_English_Version_.pdf