Bibelstudium – Die Erhöhung des Heiligen Kreuzes

11. Vollversammlung

Dieser neunte Text ist Teil einer Reihe von Bibelstudien zur Vorbereitung der 11. ÖRK-Vollversammlung und wurde von Pfarrer P. Mesrop Parsamyan, dem Leiter der Dienste der Östlichen Diözese der Armenischen Kirche von Amerika, verfasst.

Einleitung

Die Armenierinnen und Armenier haben besonderen Respekt für das Heilige Kreuz. Sie nennen sich selbst die kreuztragende Nation. Jahrhundertelang trugen Armenierinnen und Armenier das Kreuz Christi mit Glauben, Hoffnung und Liebe. Unser Volk als Nation nahm Christus an und vertraute auf das Zeichen des Heiligen Kreuzes, das uns immer an Gottes Sieg über den Tod erinnert sowie an seine bedingungslose Liebe für sein Volk.

Wenn Sie ein mittelalterliches Kloster in Armenien besuchen, werden Sie feststellen, dass dort fast jede Oberfläche von der Kuppel bis zum Boden mit geschnitzten Kreuzen bedeckt ist. Einige von ihnen sind wertvolle Kunstgegenstände, die von namenlosen Bildhauern aus dem Mittelalter geschaffen wurden. Andere sind einfache Schnitzereien von Pilgern aus der heutigen Zeit.

Traditionelle armenische Kirchen sind nach einen kreuzförmigen Grundriss aufgebaut. Das Kreuz steht in der Mitte des heiligen Altars. Priester halten das Kreuz in ihrer rechten Hand. Jeder getaufte Christ und jede getaufte Christin trägt ein Kreuz auf seiner oder ihrer Brust. Gewänder und heilige Gefäße sind mit Kreuzen verziert. Die Kuppeln der Kirchen werden von Kreuzen gekrönt. Während der heiligen Liturgie segnen Geistliche die Gläubigen häufig mit dem Kreuzzeichen und sprechen „Friede sei mit euch“.

Christliche Armenierinnen und Armenier sehen das heilige Kreuz als Ausdruck von Gottes überragender Liebe zu den Menschen, seines Sieges über Ungerechtigkeit, Sünde, Leid und sogar über den Tod sowie seines Wunsches, uns an seinem göttlichen, ewigen Leben teilhaben zu lassen. Was einst ein Werkzeug des Leids und Todes war, wurde für Menschen christlichen Glaubens ein Mittel für Erlösung und Sieg.

In der Tat rühmt sich die armenische Kirche des heiligen Kreuzes und seiner Botschaft gemäß den Worten des heiligen Apostels Paulus: „Es sei aber fern von mir, mich zu rühmen als allein des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.“ (Galater 6,14)

Bibelstelle: Psalm 85

Bitte um neuen Segen.

Ein Psalm der Korachiter, vorzusingen.

Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande
    und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;
er du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk
    und all ihre Sünde bedeckt hast; -SELA-
der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen
    und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
Hilf uns, Gott, unser Heiland,
    und lass ab von deiner Ungnade über uns!
Willst du denn ewiglich über uns zürnen
    und deinen Zorn walten lassen für und für?
Willst du uns denn nicht wieder erquicken,
    dass dein Volk sich über dich freuen kann?
Herr, zeige uns deine Gnade
    und gib uns dein Heil!
Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet,
    dass er Frieden zusagte seinem Volk
    und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten.
Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
    dass in unserm Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen,
    Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
dass Treue auf der Erde wachse
    und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
dass uns auch der Herr Gutes tue
    und unser Land seine Frucht gebe;
dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe
    und seinen Schritten folge.

Reflexion

Das Fest der Kreuzerhöhung, eines der fünf großen Feste der armenischen Kirche, ist ein feierliches Gedenken an die Erhöhung des lebensspendenden Kreuzes des Herrn. In der Kirchentradition wurde das heilige Kreuz dreimal zur Verehrung erhoben.

Es wurde erstmals von Jakobus, dem Apostel und ersten Bischof von Jerusalem, erhöht. Er erhob das heilige Kreuz vor den Gläubigen und rezitierte „Wir verneigen uns vor deinem Kreuz, O Herr“. Dieser Ausspruch wird in armenischen liturgischen Ritualen immer noch verwendet.

Bei seiner Entdeckung ungefähr dreihundert Jahre später wurde das heilige Kreuz erneut erhoben. Im Jahr 326 v. C. reiste Königin Helena, Mutter des Kaisers Konstantin dem Großen nach Jerusalem und fand dort das wahre Kreuz des Herrn. Nach dieser wundervollen Entdeckung befahl sie, dass auf Golgota die Kirche der heiligen Auferstehung gebaut werde. Dort errichtete sie das Kreuz Christi für die Verehrung durch die Menschen.

Im 7. Jahrhundert wurde das Kreuz zum dritten Mal erhoben. Als die Perser Jerusalem eroberten, stahlen sie das Kreuz Christi. Kaiser Herakles befreite das Heilige Kreuz mit Hilfe einer großen Armee aus seiner Gefangenschaft. In einer feierlichen Prozession wurde das Heilige Kreuz zuerst von Persien in die armenische Stadt Karin transportiert. Von dort ging es nach Konstantinopel und schließlich zurück nach Jerusalem. Das Kreuz wurde überall auf dem Weg erhoben. Und es war ein Grund zur Freude für alle, die es sahen, denn es war, als wenn sie die triumphale Auferstehung Christus erleben würden. Aus diesen drei historischen Ereignissen wurde das Fest der Kreuzerhöhung geschaffen.

Das Kreuz, an dem unser Herr Jesus Christus starb, bestand aus zwei einfachen Holzteilen, die aneinander befestigt waren. Das armenische Kreuz besteht aus nur einem Teil. Bei einem typischen armenischen Kreuz werden der horizontale und der vertikale Balken an der Kreuzung mit einem Kreis nahtlos und auf ewig miteinander verbunden.

Diese künstlerische Besonderheit bringt das Grundprinzip des Evangeliums zum Ausdruck: Das Kreuz Christi vereinte Gerechtigkeit und Liebe; Himmel und Erde trafen sich in ihm. Der König der Herrlichkeit machte sich klein, damit er aufsteigen konnte. Gottes einziger Sohn, der menschgewordene Jesus Christus, kam in diese sündige Welt, um die Menschheit von der Knechtschaft der Sünde zu befreien und uns ewiges Leben zu schenken.

Hier liegt die Kraft des Kreuzes: Gott vereinigt seine Gerechtigkeit und Liebe, um die sündige Menschheit zu richten und zu retten. Ohne die Kreuzigung Jesus Christus könnte es keine Gerechtigkeit geben. Die Gerechtigkeit wäre nur Verdammung und Strafe. Gleichzeitig könnte es ohne die Kreuzigung keine Liebe geben. Die Liebe wäre nur ein einfaches Gefühl. Deshalb: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6,8). 

Gerechtigkeit und Liebe werden oft als unterschiedliche Dinge angesehen oder sogar als gegenseitige Werte und Ziele. Auf der einen Seite wird Gerechtigkeit als harsche Verdammung oder Strafe ohne Barmherzigkeit angesehen. Auf der anderen Seite wird Liebe als ein Gefühl angesehen, bei dem Irrtümer und Fehler einfach übersehen werden, ohne Konsequenzen.

Die Bibel präsentiert Gerechtigkeit und Liebe ganz anders. Sie sind beide ein integraler Bestandteil von Gottes Ebenbild. Gott ist ein gerechter Richter (Psalm 7,7; 2 Tim. 4,8) und gleichzeitig ist Gott Liebe (1. Johannes 4,8).

Der Psalmist stellt die Vereinigung dieser beiden in der Gegenwart Gottes perfekt dar. „Gerechtigkeit und Recht sind deines Thrones Stütze, Gnade und Treue treten vor dein Angesicht.“ (Psalm 89,15).

Bei der Schöpfung der Welt legte Gott fest, dass Gerechtigkeit und Liebe miteinander harmonieren und sich gegenseitig stärken sollten. In Gottes Schöpfung leitet sich die Gerechtigkeit aus der Liebe zu Gott und zum Nächsten ab und muss sich um den Frieden aller Menschen bemühen. Deshalb muss die Liebe universelle Gerechtigkeit suchen und Frieden unter den Menschen schaffen.

Doch die Welt ist nicht so, wie Gott sie haben will. Die Menschen sündigten und wandten sich von der natürlichen Güte, die von Gott geschaffen wurde, ab. Aufgrund der Sünde haben die Menschen Gottes gute Absichten und die von ihm geschaffene Ordnung vernachlässigt, ja sogar dagegen rebelliert und damit ihr natürliches Leben wie auch das der gesamten Schöpfung gestört.

Doch Gott hat uns in unserer sündigen Rebellion nicht verlassen. Er half uns mit seiner Gerechtigkeit und Liebe, um das Böse zu besiegen und unsere Krankheiten und den Tod zu heilen, die wir aufgrund der Sünde geerbt haben.

Gerechtigkeit und Liebe wurden im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus vereint, in dem Gottes Zorn gegen die Sünde und seine Fürsorge für die Menschen aufeinandertrafen. Sie „begegnen einander und küssen sich“ (Psalm 85,11) in Gericht und Erlösung. Gottes einziger Sohn litt und wurde für uns gekreuzigt. Damit offenbarte sich Gottes Gerechtigkeit und Liebe für uns. Deshalb zeigt sich in dieser sündigen Welt Gottes Gerechtigkeit und Liebe in der Form des Kreuzes, im gekreuzigten Jesus, dessen aufopfernde Liebe die Welt zur Gerechtigkeit führt.

Gott übersieht Fehler, Böses und Sünde nicht. Das Kreuz vollstreckt wahrhaftig und vollständig Gottes absolutes und heiliges Urteil über die Sünde. Wie der Apostel Paulus sagt: „Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit der Geduld Gottes, um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.“ (Römer 3,25-26).

Gleichzeitig ist das Kreuz Ausdruck Gottes erlösender Liebe. „Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.“ (Kol. 1,19-20).

Und weil Gott eins ist, sind Gerechtigkeit und Liebe ebenfalls im Wesen und der Erlösung Gottes vereint, das heißt im Kreuz des Herrn Jesus Christus. Deshalb kann wahre Gerechtigkeit nicht ohne Liebe existieren, genauso wenig wie Liebe ohne Gerechtigkeit existieren kann. Gerechtigkeit und Liebe sind nicht widersprüchlich und sie sind auch nicht völlig verschieden. In den Zielen und im Wesen Gottes dienen sowohl die Gerechtigkeit, als auch die Liebe dem Wohl der Menschen und der menschlichen Beziehungen.

Im Gegenzug muss die menschliche Existenz die Natur und die Ziele Gottes widerspiegeln. Wenn in den Leben der Einzelnen und der Gemeinschaften alles in Ordnung ist, sollten die Merkmale dieses Wohlbefindens Gerechtigkeit und Liebe sein. Wenn es im Leben der Einzelnen und Gemeinschaften Probleme gibt, sollten Gerechtigkeit und Liebe danach streben, dieses Wohlbefinden zu erreichen oder wiederherzustellen. Die Herausforderung für Menschen christlichen Glaubens ist es, gerecht und in Liebe in diesem Leben zu leben, damit Gottes Natur widerspiegelt wird und die Ziele in unserer gefallenen Welt erreicht werden.

Auf dem Weg, diese Herausforderungen zu meistern, erinnert uns das hoch erhobene Kreuz unseres Herrn Jesus Christus daran, dass das Leiden notwendigerweise zur Suche nach wahrer Gerechtigkeit und Liebe dazugehört. Das Leiden ist ein unvermeidlicher Teil dieses irdischen Lebens. Es ist auch ein unvermeidlicher Teil von Gottes Erlösung, und deshalb gibt es kein Leiden ohne Hoffnung. Durch sie zieht sich das Böse zurück und die Erlösung beginnt. Diese Wahrheit wird durch das Kreuz offenbart.

Doch das Leiden und der Tod haben nie das letzte Wort. Die Kreuzigung ist tatsächlich nicht das Ende. Auf die Kreuzigung folgt die Auferstehung. Die Evangelisten stellen die Kreuzigung und die Auferstehung als durchgehenden und geeinten Plan Gottes dar, mit dem Gott die Sünde besiegt und die Welt erlöst.  

Jesus Christus starb, damit wir für die Sünde tot sind. Jesus ist auferstanden, damit wir zu einem neuen Leben auferstehen konnten. Deshalb erhalten wir durch die Kreuzigung und Auferstehung ein neues Leben in Jesus Christus. Wir überwinden die Sünde und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Beziehung mit Gott, unsere Beziehungen untereinander, mit uns selbst und mit der ganzen Schöpfung.

Die Geschichte von Gottes Gerechtigkeit und Liebe ist die Geschichte des Guten, das aus dem Bösen kommt, der Freude aus den Sorgen, der Hoffnung aus der Hoffnungslosigkeit und des Lebens aus dem Tod.

Deshalb „Halte fest an Liebe und Recht und hoffe stets auf deinen Gott!“ (Hosea 12,7).

Fragen für weitere Reflexionen

  1. Wie treffen deiner Meinung nach Gerechtigkeit und Liebe am Kreuz aufeinander und vereinen sich?
  2. Was bedeutet es für uns, durch Gottes Gerechtigkeit und Liebe verändert und wiederhergestellt zu werden?
  3. Wie kann Gottes Gerechtigkeit und Liebe unser Leben und das Leben der christlichen Kirchen und Gemeinschaften verändern und wiederherstellen? 
  4. Sind christliche Kirchen und Organisationen besonders gut dafür positioniert und gerüstet, um Gottes Gerechtigkeit und Liebe zu vermitteln? 

Gebet

Nun sieh mich an, belagert von überwältigender Gefahr,
du, der du allein süß für alle bist.
Schneide mich los mit deinem siegreichen Schwert des Lebens, dem Kreuz, 
und befreie mich aus den Netzen, die mich gefangen haben,
Netze, die mich von allen Seiten als Gefangenen des Todes bedrängen.
Bitte beruhige meine zittrigen Füße auf dem gewundenen Weg und
heile das brennende Fieber in meinem gequälten Herzen.
Wende ab das dämonische Geflüster der Versuchung, gegen dich zu sündigen.
Vertreibe die Verzweiflung meiner dunklen Seele, die im Bösen wohnt.
Vertreibe den dichten Rauch der Sünde, der mich durchdrungen und vernebelt hat.
Zerstöre die abscheulichen, dunklen Leidenschaften meiner niederen Bedürfnisse.
Erneuere das Bild des Lichts, das durch die
Herrlichkeit deines mächtigen Namens verehrt wird, meine Seele.
Richte deine leuchtende Gnade auf mein Gesicht und auf
die Wahrnehmung meines Geistes, einem erdgebundenen Geschöpf.
Und reinige meine erbärmliche Sündhaftigkeit mit deiner Reinheit,
damit du dein Bild in mir wiederherstellen und offenbaren kannst.
Mit deinem göttlichen, lebendigen, unverdorbenen und
himmlischen Licht,

das deine drei Personen umhüllt.
Denn du allein bist gesegnet mit dem Vater und dem Heiligen Geist
für immer und ewig.
Amen.

(Gebetbuch Narek, Kapitel 40)

Kirchenlied: Saragahn – Payd genats

Fest der Kreuzeserhöhung
Saragahn – Payd genats
Hymnus – Holz des Lebens

Oh Holz des Lebens, anstatt der Frucht des Todes
brachtest du Christus hervor.
Stärke und schütze den Bund der Gläubigen

Durch dich wurde uns der Weg zum Bau des Lebens eröffnet,
der von den Seraphim bewacht wurde.
Stärke und schütze den Bund der Gläubigen

Durch dich wurde der Urvater [von der Sünde] erlöst,
dass er von der Frucht gegessen hatte.
Und alle Gläubigen verneigen sich vor dir.
Stärke und schütze den Bund der Gläubigen

Zum Autor

Pastor Bruder Mesrop Parsamyan ist Direktor der Diözese der Armenischen Kirche in Amerika. Er ist Mitglied der Bruderschaft von Etschmiadsin und wurde 2003 zum Priester ordiniert. Nach seinem Abschluss am Gevgorgyan Theological Seminary im Jahr 2003 und an der Universität in Straßburg im Jahr 2007 arbeitete er als Professor für christliche Ethik am Theologischen Seminar Etchmiadzin’s Kevorkian und als stellvertretender Kanzler des Mutterstuhls. Pastor Parsamyan war in Belgien und Frankreich pastoral tätig, bevor er zum Stellvertreter der Diözese in der Schweiz ernannt wurde. Von 2012 bis 2014 amtierte er als Generalvikar der Diözese von Marseille und später als Stellvertreter der Diözese von Paris. Von 2015 bis 2019 war Pastor Mesrop bei der Östlichen Diözese der Armenischen Kirche von Amerika als Pastor der Holy Shoghagat Church von Belleville in Illinois und dann als Vikar der St. Vartan Armenian Cathedral in New York tätig. Von 2019 bis 2021 war er Dekan des Theologischen Seminars Gevorkian in Etschmiadsin.